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Gedenken an NSU-Opfer

Jena-Winzerla: Linie 2 hält ab sofort am Enver-Şimşek-Platz

Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche (l.) und JenaKultur-Werkleiter Jonas Zipf erklärten die offizielle Umbennung der Haltestelle in Jena-Winzerla.
Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche (l.) und JenaKultur-Werkleiter Jonas Zipf erklärten die offizielle Umbennung der Haltestelle in Jena-Winzerla.
Foto: Alexander Nehls
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Aus Damaschkeweg wird Enver-Şimşek-Platz: Jena benennt Haltestelle um und gedenkt damit der Opfer des NSU-Terrors. Das Motto "Kein Schlussstrich" soll den Anstoß für weitere Aufarbeitung geben.

Jena. "Say their names": Getreu diesem Motto wurde heute die Umbenennung der Straßenbahnhaltestelle Damaschkeweg in Enver-Şimşek-Platz gefeiert. Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche betonte, es sei wichtig, die Erinnerung an die Opfer des NSU-Terrors, der seinen Anfang in Jena-Winzerla nahm, hochzuhalten.


"Sag meinen Namen und ich habe wieder einen Namen - dieser Satz geht richtig unter die Haut, wenn man ihn einmal auf sich wirken lässt", sagte er im Rahmen eines Pressetermins am Bahnsteig der Haltestelle. 

Schlusspunkt eines "Aufarbeitungsjahres": OB froh über zivilgesellschaftliches Engagement

Bereits im letzten Jahr war der Enver-Şimşek-Platz in Jena-Winzerla eingeweiht worden. Es sollte der Auftakt für ein "Aufarbeitungsjahr" sein, wie es Nitzsche formulierte. Das Jahr 2021 sei von "ungeheuer vielen Veranstaltungen" zum Thema "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) geprägt gewesen.


Mit den über 70 Veranstaltungen, einem 10-Punkte-Plan und der Gründung einer Antidiskriminierungsstelle habe Jena als Stadt mit großer Unterstützung von JenaKultur bundesweit ein Zeichen gesetzt.

Besonders erfreulich dabei sei gewesen, dass die Initiative zum großen Teil aus der Zivilgesellschaft stammte. Die Umbenennung der Haltestelle stelle den Schlusspunkt des "Aufarbeitungsjahres" dar, wenngleich immer noch viel zu tun sei.

Gedenken an Terroropfer

Enver Şimşek war das erste von insgesamt zehn Mordopfern des rechtsterroristischen NSU-Komplex. Am 9. September 2000 wurde er in Nürnberg vor einem Blumenstand, für dessen Betreiber er an dem Tag die Vertretung übernahm, niedergeschossen. Zwei Tage später erlag er seinen Verletzungen.

Zahlreiche weitere Menschen wurden bei Banküberfällen und Bombenanschlägen des NSU verletzt und traumatisiert. Der Name Enver Şimşek stehe damit stellvertretend für alle NSU-Opfer, so Nitzsche.

Die drei Traumata der Opferfamilien

Nitzsche zitierte die Tochter Enver Şimşeks, Semiya Şimşek, mit der die Stadt im engen Austausch gewesen sei. Sie habe gesagt, die Familien der Opfer hätten nicht nur ein Trauma, sondern drei Traumata im Zuge des Verlustes ihrer Angehörigen erfahren müssen.


Nach der Ermordung ihrer Liebsten, dem ersten Trauma, bestand das zweite Trauma darin, dass immer wieder deren Familienangehörige verdächtigt worden waren. In den Medien machte der abwertende und rassistische Begriff "Dönermorde" die Runde.

Hinweisen darauf, dass die Morde einen rassistischen Hintergrund haben könnten, wurde dagegen lange nicht nachgegangen. Erst nach dem Tod der beiden Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in einem Wohnwagen in Eisenach elf Jahre später und der Untersuchung der darin gefundenen Waffen und Spuren erkannten die Ermittler den Zusammenhang.

Was uns zum dritten Trauma führt: der unvollständigen Aufarbeitung der Taten. Diese verläuft nicht nur schleppend, sondern wurde und wird weiterhin durch die Behörden zu großen Teilen behindert. Auch der verfrühte Schluss, es habe sich bei dem NSU um ein isoliertes Trio ohne Unterstützernetzwerk gehandelt, wird von vielen Seiten angezweifelt und wirft weitere Fragen an dem Willen zur Aufarbeitung auf.

Mildes Urteil für NSU-Helfer

Vor diesem Hintergrund sei auch das gestrige Urteil des Bundesgerichtshofes gegen André E. eine große Enttäuschung für die Opfer, sagte JenaKultur-Werksleiter Jonas Zipf. Der erwiesene Neonazi hatte das NSU-Trio maßgeblich mehrfach vor dem Auffliegen gerettet und Beate Zschäpe später zur Flucht verholfen. Für die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" wurde er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Da er aber bereits seit einem Jahr und fünf Monaten in Untersuchungshaft sitzt, könnte er bereits in drei Monaten auf Bewährung freikommen.


Ebenfalls in dieser Woche war im Zuge einer Wohnungsdurchsuchung in Jena ein Waffenarsenal entdeckt worden (wir berichteten). Der Besitzer, ein 49-jähriger Deutscher, gab zu, mehrfach in der Jenaer Innenstadt islamfeindliche Flugblätter verteilt zu haben.

"In Jena haben Ausgrenzung und Rassismus keinen Platz. Deshalb sind wir erleichtert, dass der Täter gefasst wurde und für die Betroffenen endlich wieder Ruhe einkehren kann. Wir danken der Polizei in Jena für die intensive Ermittlungsarbeit, durch die möglicherweise noch schlimmere Taten verhindert werden konnten", sagte Nitzsche dazu.

"Kein Schlussstrich!"

Diese Beispiele zeigen: Es bleibt viel zu tun. Das war auch Zipf von JenaKultur wichtig zu betonen. Das Motto "Kein Schlussstrich!", unter dem von Juni bis November 2021 zahlreiche Ausstellungen, Podiumsdiskussionen, Workshops, Lesungen und Vorträge stattfanden, sei mit Bedacht gewählt worden. Es solle für weitere Denkanstöße sorgen, denn weitere Aufarbeitung brauche es definitiv.

Text: Alexander Nehls